Brutalismus – die ehrliche Haut

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Grob, grau und schwer liegen sie da: wuchtige Kolosse, deren schroffes Gesichtals Reminiszenz der Nachkriegsmoderne noch heute Stadtbilder prägt. Hässlich und abweisend, so die Konnotationen, die gemeinhin –mitunter vorschnell – jenem Architekturstil der 1950er und 1960er Jahre gelten, der baugeschichtlich in die Strömung des Brutalismus einzuordnen ist. Ein die Gesellschaft polarisierender Diskurs, der nicht erst seit der Debatte um Erhalt oder Abriss der Kirche St. Agnes in Berlin, Symbol des deutschen Brutalismus, aktuelle Relevanz zeigt. Ob pauschalisierend als Betonklötze abgetan, gerechtfertigt als bedrohte Denkmäler für baukulturelles Erbe oder gar in nostalgischem Licht wiederentdeckt als Design-Objekte – brutalistische Bauwerke sind es Wert, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Denn hinter ihren Fassaden steckt viel mehr. Liest man ihre Formensprache, sind auch in der zeitgenössischen Architektur Spuren jenes Prinzips evident.

Trotz fortwährender Aktualität innerhalb der architekturhistorischen Forschung bleiben der Terminus des Brutalismus und seine zeitliche Fixierung unscharf. Bereits 1955 suchte Reyner Banham in seinem Aufsatz „Architectural Review“ mit dem Begriffspaar „Ethik“ und „Ästhetik“ einen Sockel für den Stil zu finden, der in die Fußstapfen der internationalen Moderne tritt – doch bezieht sich der Zugriff auf den „New Brutalism“ des Nachkriegsengland der 1950er Jahre. Gelten Alison und Peter Smithson als Mitglieder des Team 10 in diesem Kontext als Pioniere der Strömung, gleichwohl ihre Ideen von jenen Mies van der Rohes geprägt waren,zeigt sich der Leitgedanke erstmals im Schulbau von Hunstanton(1949-1954): Der Gebrauch von Stahl, Glas und Ziegeln spiegelte hier die fundamentalistische Rückbesinnung auf eine sich in groben und unvollendeten Materialien artikulierende, sinnlich anmutende Ästhetik wider – eine theoriebasierte Attitude, die danach strebte, in Opposition zur formalen Lähmung der Moderne durch einen unvermitteltenAusdruck großdimensional Gebautes authentischmitgesellschaftlichem Alltag zu verweben. Internationale Präsenz, über die Grenzen Europas hinaus bis in die USA und nach Japan,
zeigt der Brutalismus erst etwa zehn Jahre später. Unter Beibehalt konstruktions- und materialorientierter Ansätzeerweist sich hierbei jedoch – mehr als ethische Dispositionen – vorrangig die nahezu skulpturale Verwendung des rohen Sichtbetons, des ‚béton brut’, aus etymologischer Sicht als zentral. Dennoch, die Robustheit reiner, unverstellterFormen, das Bekenntnis zu Material und Struktur und schließlich die Transparenz der Funktion bringen über den Anspruch einer chronologischen Folge hinaus all jene Bauwerke auf einen gemeinsamen Nenner: Nämlich die äußere Ablesbarkeit des Inneren, für die der Betonweit mehr als nur Hülle eine Projektionsfläche, eine ehrliche Haut darstellt. Als richtungsweisend zeigen sich dabei sowohl Le Corbusiers Klosterbau La Tourette (1956-60) als auchdie Unité d’Habitationin Marseille (1947-52). Zwar dominiertbei dieser Sichtbeton die Skelettkonstruktion in seiner archaischen Optik gänzlich und lässt es glatt und abweisend erscheinen – trotz der Schalungsspuren der Betonverarbeitung, die der Architekt mit Meißelschlägen bei einer Steinskulptur verglich. Dennoch vermitteln bereits die einem geometrisch regelmäßigen und groben Raster folgenden Fassaden die innenliegende Programmatik: Das Wechselspiel zwischen Individual- und Gemeinschaftsbereichen, welches sich in den Balkonen der formal unabhängigen Wohneinheiten einerseits, andererseits durchdie auf halber Gebäudehöhe herausstechende Glasfläche, hinter der sich Ladenstraße und Hotel befinden, äußert. Eine Komposition also, die mittels Proportionen, Rhythmus und plastischer Massengliederung Schwere und Leichtigkeit synchronisiert. Dernicht umgesetzte Entwurf der Smithsons für das Londoner Golden Lane Estate (1952)und die später erbaute Siedlung Robin Hood Gardens (1972)greifen Le Corbusiers Motiv der inneren Straßen, dieBewohnern die Funktionsbereiche zugänglich machen, auf: In Form von ‚Streets in the Sky’ wurden siein den zwei Blocks jedoch nach außen verlagert, mit der Intention, die Zirkulation und Interaktion innerhalb des Gebäudes sichtbar zu machen.
EinMotiv, dasauf virtuose Weise auch dasGesicht des Shri Ram Centre for Art and Culture in Neu-Delhi (Shivnath Prasad, 1969) offenbart. Ingeniös trifft das zylindrische Basisvolumen, welches als Kern das Theater beherbergt, auf den auf ihm thronenden und über ihn hinauskragenden rechteckigen Kubus des Auditoriums. Ein sich tief in die Betonmasse einschneidender Brise-soleil als überdimensionierterAbkömmling der Sonnenblenden der Unité spiegelt die Funktion des Bauwerks wider, indemerihm die Wirkung eines Schaukastens verleiht. Das Ensemble starker geometrischer Kontrasteerweist sich ebenso im 1960 als Sitz der Vereinten Nationenkonzipierten Gebäude von Emilio Duhart, Christian de Groote und Roberto Goycolea in Santiago de Chile als maßgeblich. Von Duhart beschrieben als Symbiose aus ‚Haus’ und ‚Monument’, zeigt sich der Komplex als imposantes Karree, dessen Innenhof von die Flügel verbindende Brücken in vier Teile geteilt wird. Innerhalb der hofseitigen Fassaden aus reliefiertem Sichtbeton ragen hier sowohl Bürohaus als auch der sich spiralförmig in die Höhe windende Kegel – Versammlungsort der UN – monumental empor. Eine Kombination von Formen, die nicht nur klimatischen Gegebenheiten Rechnung trägt, sondern auch die Topografie des Landes spiegelt. Wie der Rekurs auf lokale Bautraditionen mit brutalistischen Prinzipien einhergeht, zeigt Kenzo Tange mit dem Rathaus – heute Museum – im japanischenKurashiki (1960): So verweist das tektonische Wechselspiel aus Glas und Beton auf eine an Holzbauweisen erinnernde Optik. Im Theological College von Chichester (ABK Architects,1965) wiederum reflektieren Außenwände aus Ziegel und Holz den örtlichen Kontext. In regelmäßigem Raster bilden sie sich als Verlängerung des festungsartigen Baukörpers zu herausstehenden Kuben aus, um innen größere, durch ein Oberlicht versehene Räume für Rückzug und Studien zu ermöglichen.

Stellte bereits Le Corbusiers Unité ein ‚Laboratorium’ für Form und Funktion dar, gilt der Vergleich ebenso der Erprobung der seriellen Produktion von Baumaterialien. Ob in der Park-Hill-Anlage (1957-61, Jack Lynn/Ivor Smith), dem Wyndham Court (1966, Lyons Israel Ellis)oder der Gropiusstadt(1975) in Berlin – besonders für den sozialen Wohnungsbau warder Einsatz von Fertigteilendienlich, um auf ökonomische Weise einfach und schnell zusätzliche Behausungen zu schaffen.

Ästhetik und Form des Brutalismus, so umstritten er sein mag, beeinflussen bis heute Diskurse in Architektur und Städtebau. Auf Umwegen über strukturalistische Prinzipien bis hin zum Minimalismus zeigen sich zeitgenössische Interpretationen durch Gebäudeformen, die nach wie vor keinenHehl aus ihrem Inneren machen. So beispielsweise die Kukje Gallery (2012) in Seoul, entworfen vom New Yorker Büro So-Il. Von innen heraus funktionierend und stark reduziert in seiner architektonischen Sprache äußert sich der Bau als eingeschossiger Würfel, dessen Außenwände die Raumstrukturen durch geometrischeAuswölbungen nachvollziehbar machen. Grober Beton undscharf ausgeschnittene Wandöffnungen finden sich auch im 2006 fertiggestellten SANAA-Gebäudes des Zollvereins Essen, das unter anderem von der Folkwang Universität der Künste genutzt wird. Wie Rohmaterialien heutzutage besonders für Institutionen mit künstlerischem Bezug und repräsentativem Anspruchin effektvoller UmsetzungZuspruch finden, offenbart ebenso der Blick auf ein Projekt der Pitágoras Arquitectos. Radikal, dennoch diskret in seiner Erscheinung kontrastiert das Volumen für die Platform of Art and Creativity (2012)in Guimarãesmit seinem Umfeld.Und schließlich beweist das von Wespi De Meuron Romeo designte Wohnhaus (2013) im schweizerischen Brissago, dass sich Spuren des Brutalismus, zumindest im Materialeinsatz, ebenso in kleineren Dimensionen wiederfinden.

Brutalismus bleibtalso Erbe der jüngeren, obgleich noch nicht kanonisierten Baugeschichte. Als Relikte, welche das Facettenreichtum und die Haltung jener Zeit charakterisieren, eröffnen einige herausragende Bauwerke das Potenzial, moderne Architektur aus kultureller Sicht zu bewerten. An Beispielen wie dem geplanten Abriss der Robin Hood Gardens oderdem 1972 erbauten Historischen Museums Frankfurt, dessen Betonbau 2011 zugunsten eines Neubaus eliminiert wurde, wird die Frage nach einemkonservatorischen Denkwandel laut, der über rein ökonomische Kriterien hinaus in Erwägungenzu voreiligen Demontagen funktionsfähiger Bauten vollzogen werden sollte. Visualisieren siedasdamalige Bedürfnis nach Protektion und Konstanz und damit den Diskurs um Gesellschaftskonzepte,hatdieser an Bedeutung nicht verloren. Besonders, wie Kenneth Frampton im Sinne einer stilistischen Rehabilitierung zu bedenken gibt, in unserer Zeit, die von gesellschaftlichen Erosionen und kapitalistischem Dilemma geprägt zu sein scheint.
Autorin: Laura Stillers, B.A.