Gentrifizierung Istanbul

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Istanbul- Eine globalisierte Stadt, zwischen Segregation und Mobilisierung. Wo der Charme historischer Architektur auf modernen Lifestyle trifft. Eine Stadt der Gegensätze und Vielfalt. Hier leben aktuell etwa 15 Millionen Menschen, unterschiedlichster Nationalität und Konfession. Dies ist zumindest die offizielle Zahl. Die Dunkelziffer wird fast auf ein Doppeltes geschätzt. Würde man die Bevölkerung gleichmäßig auf ganz Istanbul verteilen, würde sich die Bevölkerungsdichte auf etwa 2732 Einwohner je Quadratkilometer belaufen. Die Einwohnerzahl hat sich seit dem Jahr 2000 beinahe verdoppelt. Grund dafür ist vorwiegend der Wirtschaftsaufschwung, der Prognosen zu Folge 2014 weiter um etwa 4% wachsen soll. Mehr als 500 der bedeutendsten türkischen Großkonzerne sind hier ansässig. Hinzukommt die geopolitisch günstige Lage der Stadt, die sich als Tagungs-und Konferenzzentrum für NATO, IWF und G-8 anbietet. Allein das Tourismusgeschäft durch die Tagungsteilnehmer ist schon enorm. Die Tourismuszahlen haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht. Aber Istanbul ist auch Heimat der Creativ Class, die sich insbesondere in dem Szeneviertel Beyoğlu etabliert hat. An einem Ort der Konflikte, finden sie Material mit dem sie arbeiten können. Die Kreativen und Künstler lassen die Stadt pulsieren und geben ihr Identität. Aber genau dieser Aspekt machte den Stadtteil auch für Spekulanten, Investoren und das Aufwertungskonzept der Regierung interessant. Plötzlich müssen subkulturell organisierte Szenekneipen auf den Tourismus ausgelegten Bars und Modeboutiquen weichen. Beyoğlu wird mit seinem Überangebot an internationalen, angesagten Geschäften und Restaurants zum Herz der Stadt, das vor allem für eine bestimmte Gruppe von Menschen schlägt, für die Touristen.
Seit den Gezi-Park Protesten ist klar, dass sich die Stadt in einer soziokulturellen Krise befindet. Die Bewegung kritisierte vorwiegend den Aspekt des autoritären Eingriffes in öffentlichen Lebensraum mit der Absicht Profit zu erwirtschaften. Bei den Demonstrationen formierten sich neben den unterschiedlichsten Initiativen auch diverse Künstlerkollektive, die versuchten die Stimme des Volkes zu vertreten. Der Park galt einst, wie viele andere nun bebaute Landschaftsflächen, als ein zu schützender Freibereich Istanbuls. Im Falle eines einsetzenden Erdbebens könnten sich die Bewohner auf diese Freiflächen flüchten. Betrachtet man nun die Tatsache, dass der Park jetzt stattdessen einem Shopping Center weichen muss, stellt sich einem durchaus die Frage nach dem eigentlichen Interesse des Großprojekts. Der Idealismus der Politik scheint im Konflikt zur Gesellschaftsideologie der Bevölkerung zu stehen. Denn Kapitalismus und Gewinnorientiertheit sind die Beschleuniger einer sich negativ auswirkenden Gentrifizierung.
Am 10 Oktober 2013 fand in Berlin eine Vortagsreihe und Diskussionsrunde unter dem Thema ‚Istanbul-Verdrängung brutal‘ statt. Die Veranstaltung fokussierte den rasend schnell voranschreitenden Gentrifizierungsprozess in Istanbul und seine Auswirkungen.
Dennis Kupfer spricht von einem totalitären Herrschaftsregime. Er bezieht sich auf die Vorfälle während der Gezi-Park Demonstrationen. Die Regierung ließ die friedlichen Proteste mit brutalster Vorgehensweise niederschlagen. Hier zeige sich die autoritäre Haltung der Politik.
Aber nicht nur öffentliches Eigentum muss dem urbanen Transformationsprogramm weichen auch Privateigentum ist betroffen. Vor allem sogenannte Gecekondus sind der Regierung ein Dorn im Auge. Sie gelten als Schandflecken und besetzen wertvolles Kapitalland. Gecekondus sind Armenviertel, die häufig von Arbeitern, Migranten und Roma besiedelt sind. Die selbstgebauten Häuser wurden größtenteils ohne Baugenehmigung errichtet, galten aber dennoch bisher immer als von der Regierung geduldet. Doch die AKP hat nun mehrere neue Gesetzesgrundlagen verabschiedet, die den Abriss dieser Wohnviertel zu Gunsten eines finanzstärkeren und statushöheren Bevölkerungsmilieus rechtfertigen. Die staatliche Wohnbaugesellschaft TOKI ist bei der Umsetzung dieser Modernisierungsmaßnahmen Hauptakteur und unterliegt bis auf den Premierminister Erdoğan, keiner Kontrollinstanz, was beispielsweise die Haushaltsausgaben betrifft. Die Baugesellschaft ist auf Grund dessen in den vergangen Jahren vermehrt in die Kritik geraten. Die Gecekondus in Sulukule und Tarlabaşı mussten bereits den Erneuerungsprozess über sich ergehen lassen. Aktuell ist das in bester Lage am Bosporus gelegene Küçük Armutlu betroffen. In Sulukule beispielsweise lag der Kapitalertrag bei etwa 900.000 Lira. Die Grundstücke wurden für rund 40.000 Lira gekauft und für etwa 60.000 Lira bebaut. Verkauft werden konnten sie für bis zu einer Millon Lira. Durch die starke Nachfrage steigen die Renditen und somit der Ertrag an Immobilienkapital. Argumentiert wird mit dem Vorwand einer Erdbebenvorsorgemaßnahme. Laut Experten beträgt die Erdbebenwahrscheinlichkeit in den nächsten 30 Jahren immerhin 60%. Die Häuser würden einem Erdbeben nicht stand halten und es müssen Neue gebaut werden, so die Verantwortlichen. Die Betroffenen haben keine Wahl. Entweder sie verkaufen dem Staat ihr Grundstück und siedeln um in teure, weit entferntere soziale Wohnungsbauten, die ihnen zugewiesen werden oder ihnen droht die Obdachlosigkeit. So werden die Menschen der unteren Schicht in die Peripherie verdrängt. Im Gegensatz hierzu entstehen immer mehr Gated Communitys in Vierteln wie Levent für ein sehr finanzstarkes Milieu. Der Sapphire Tower ist ein Beispiel für ein vertical gated development. Der Wolkenkratzer ist 236 Meter hoch und beherbergt Luxuswohnungen, ein Einkaufszentrum, diverse Freizeiteinrichtungen, unter anderem einen Golfplatz und vertikale Gärten auf jeder dritten Etage. Das Gebäude soll das energieeffizienteste Hochhaus der Türkei sein. Aber es gibt auch zahlreiche horizontale Gated Communities in Istanbul, die sich über ein ganzes Gebiet erstrecken. Es handelt sich dabei um tatsächlich durch bauliche Maßnahmen abgegrenzte Stadtbereiche, die lediglich der finanzstarken Elite zugänglich sind. Sie sind Produkt der verstärkten Nachfrage einer statushohen Bevölkerungsgruppe, deren Anspruch sich an exklusiven Lebensstandards, Sicherheit und homogener Sozialstruktur misst. Der Prozess der Segregation ist offensichtlich. Sie behindert Integrationsprozesse und spaltet die Bevölkerung räumlich nach ihrem sozialen Status. Die Unterschicht wird abgeschoben und ausgegrenzt um der zahlungsfähigen Oberschicht attraktiven Lebensraum zur Verfügung stellen zu können. Mit der Planung diverser Großprojekte wie der dritten Bosporusbrücke und dem neuen Flughafen will die Regierung einerseits den Bausektor stabilisieren indem rund 15% der arbeitenden Bevölkerung beschäftigt ist und darüber hinaus die Metropole zur ‚Global City‘ avancieren lassen. Gesetztes Ziel ist es Weltzentrum für Wirtschaft, Kongresse, Finanzgeschäfte und Tourismus zu werden. Erst im Oktober vergangenen Jahres wurde der 1,4km lange Marmaray Tunnel eröffnet, der den Zugtransfer von der europäischen zur asiatischen Seite erleichtert. Ein Milliardenprojekt unter vielen mit dessen Gelingen sich der Regierungschef Erdoğan schmückt während gleichzeitig in genau derselben Stadt die sozial benachteiligte Schicht um das finanzielle Überleben kämpft. Man versucht die infrastrukturellen Probleme zu bewältigen und vernachlässigt dabei das Interesse für soziokulturelle Strukturmaßnahmen, die einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Prioritätsanspruch haben. Die immer stärker voranschreitende sozialräumliche Verdichtung bestimmter Randgruppen führt zu massiven Gesellschaftskonflikten die bald untragbare Ausmaße annehmen können. Es bleibt zu überlegen ob es für die urban-positive Entwicklung der Stadt nicht ratsamer wäre ein Teil des Staatskapitals in die Förderung kollektiver Sozialinteressen der in Istanbul lebenden Menschen zu investieren statt in Gigantenprojekte. Formen doch die Bürger das Stadtprofil, nicht die architektonischen Monumente. So avanciert Istanbul zur Megametropole, die sich an dem Überangebot von Luxusappartments und Shopping Malls zwar profilieren kann, aber zugleich an einem Defizit von Kommunikationsplätzen leidet, auf denen soziale Interaktion, kulturelle Produktion und multikulturelle Integration stattfinden könnte. Plätze, auf denen man Menschen die Möglichkeit gibt zusammen zu kommen, statt sich von einander zu differenzieren. Was der politischen Instanz nicht bewusst zu sein scheint, dass sie mit der Image-Polierung Istanbuls gleichzeitig eine Identitätskrise verursacht, die nicht nur das historische Erbe gefährdet sondern auch die Existenz derer, die Istanbul erst zu dem besonderen Ort machen, der er ist: Ein Ort der Vielfältigkeit und Perspektiven.

Autorin: Tamara Scheck